Loslassen und Verantwortung übernehmen
Eltern haben es nicht immer leicht. Trotz aller Schwierigkeiten sollten sie dennoch Lust darauf haben, Mutter und Vater zu sein. Die schwedische Autorin und Kinderexpertin Helena Harrysson über offenen und lebensbejahenden Erziehungsstil und mehr Lockerheit im Umgang mit Kindern.
Jede Familie, jedes Kind ist anders. Ein für alle gültiges Erziehungsrezept gibt es also nicht. Können Sie Eltern trotzdem einen allgemeinen Rat mit auf den Weg geben?
Gute Eltern zu sein ist eine wirklich große Herausforderung! Wenn Elternschaft aber als eine Chance begriffen wird und nicht als etwas, das irgendwie durchgestanden werden muss, macht Erziehung Spaß und Eltern können zusammen mit ihren Kindern wachsen. Wichtig in meinen Augen ist, dass Erwachsene sich immer wieder vor Augen führen, dass ihre Kinder nicht dazu da sind, um sie als Mutter oder Vater glücklich zu machen oder ihre Wünsche und Bedürfnisse zu befriedigen. Erwachsene sollten ihr Bestes geben, dass Kinder sich in jeder Situation geliebt und unterstützt fühlen, ihr eigenes Leben zu leben. Denn jedes Kind braucht viel Nähe und Kontakt zu seinen Eltern. Das heißt nicht, dass Eltern das Kind ständig beschäftigen müssen, mit ihm sprechen, ihm etwas beibringen oder mit ihm spielen müssen. Aufmerksam sollten Eltern den Kindern gegenüber sein, so dass diese spüren, dass sie wahrgenommen und geliebt werden. Es genügt einfach da zu sein. Man muss Kindern nicht immer neue Aktivitäten anbieten.
Leicht kann es passieren, dass Familie als ein großer Sorgenkomplex erlebt wird. Was raten Sie Eltern, damit es gar nicht soweit kommt. Und wie können sie sich daraus befreien?
Zum Familienleben gehören Probleme, Ärger und Sorgen. Aber es ist auch voller Glück, Freude und Spaß! Das wechselt sich ständig ab. Manchmal kann helfen, sich selbst und seine Kinder wie in einem Film zu betrachten. In einem guten Film wollen wir lachen, Spannung erleben, vielleicht weinen, uns aufregen, wir wollen uns überraschen lassen oder berührt werden. Genauso ist es doch mit der Familie. Es ist ein Theaterstück. Eine Geschichte. Eltern können dabei sehr inspirierende Regisseure sein. Ich gebe den Rat: Unterstützen Sie Ihre Kinder, Ihren Partner und sich selbst so gut es geht. Jeder Mensch möchte hören: „Du bist toll!“, „Du schaffst das!“, „Wir lieben Dich!“. Es ist wichtig, nicht zu viel auf Fehlern herumzureiten. Gerade Kinder brauchen das Gefühl, dass wir sehen, dass sie ihr Bestes geben und wollen dafür bestätigt werden.
Liest man Ihr einziges ins Deutsche übersetzte Buch „Traut Euch, Eltern zu sein“, gewinnt man den Eindruck, dass es besonders wichtig ist, seinen Kindern und sich selbst gegenüber immer ehrlich zu sein und sich gegenseitig ernst zu nehmen. Dazu gehört auch, Grenzen, die das Leben setzt, beispielsweise Trauer oder Verlust anzuerkennen und den Kindern keine rosarote Traumwelt vorzugaukeln. Überfordern Sie die Kinder damit nicht?
Für Kinder liegen Glück und Traurigkeit dicht beieinander. Sie können ihre Gefühle nicht steuern. In dem einen Moment lachen, im nächsten weinen sie. Wenn Eltern beherzigen, dass Traurigkeit einfach ein Teil des Lebens ist und Glück ein anderer, müssen sie auch den Kindern nicht sagen: „Oh, hör doch bitte das Weinen auf! Das ist so schrecklich für mich. Was soll ich bloß tun, damit Du nicht mehr weinst?“.
Stattdessen können Eltern dem Kind helfen, wenn sie sagen: „Es ist in Ordnung, wenn Du weinst. Ich sehe, dass Du sehr traurig bist, weil Du nicht bekommen hast, was Du wolltest. So ist es manchmal. Ich bin bei Dir.“ Wenn Eltern ihren Kindern das Gefühl geben können, dass sie mal traurig sein dürfen und sie diese Traurigkeit ein Stück weit anerkennen, ohne sie gleich durch Ablenkung, Geschenke oder Unmut wettzumachen, dann hat das Kind die Chance, die Traurigkeit aus eigener Kraft zu überwinden. Eltern sollten ihren Kindern Nähe und Liebe geben nicht nur in glücklichen Momenten, sondern gerade dann, wenn Kinder traurig oder wütend sind. In jeder Situation. Elternliebe ist bedingungslos.
Können die Österreicher von den Schweden lernen? Anders gefragt: Gibt es in Schweden bestimmte Rahmenbedingungen, die das Familienleben erleichtern und die übertragbar auf österreichische Verhältnisse sind?
Ich kenne österreichische Situation nicht so gut, jedoch die schwedische umso mehr. Schweden war das erste Land weltweit, das jede Form von körperlicher Gewalt an Kindern per Gesetz unter Strafe stellte. Das war 1979. Nicht alles änderte sich dadurch sofort. Denn ein Gesetz verändert die Mentalitäten nicht mit einem Schlag.
Aber es zwang zum Nachdenken: „Wenn wir unsere Kinder nicht mehr bestrafen dürfen, wie können wir dann noch erziehen? So fragte man damals. Daraus ist eine Tradition entstanden. Zur Überraschung mancher Erwachsener stellte sich heraus, dass Kinder intelligente Wesen sind – es ist nicht nötig sie zu bestrafen. Weder physisch, noch psychisch. Wir müssen auf die Kinder zugehen, sie verstehen lernen, mit ihnen in einen liebevollen Austausch treten.
Genauso wollen wir doch als Erwachsene auch behandelt werden. Wenn wir Kinder bestrafen, dann weil wir Angst haben und die Kontrolle zurückgewinnen wollen. Genauso wurde es lange Zeit gehandhabt. Wir versuchten einander zu kontrollieren und unsere Kinder besonders. Das musste anders werden. Ich glaube, Schweden war damals Vorreiter und konnte andere Länder inspirieren. Und tut dies noch. Ich hoffe es jedenfalls. Einfach weil wir sehr früh nach neuen Wegen in der Erziehung gesucht und dabei auch viele Fehler gemacht haben.
Warum sollten die anderen die gleichen Fehler wiederholen? Besser ist es sich die bereits gemachten Erfahrungen anzuschauen und daraus zu lernen. Soviel zur Vergangenheit und zur Frage, warum Schweden in Erziehungsangelegenheiten gerne als Beispiel genommen wird. Ich denke, die ganz große Herausforderung für Schweden und für Österreich heute besteht darin: Wie können wir unsere Kinder loslassen, und gleichzeitig die Verantwortung für sie tragen? In meinem Buch finden Eltern, die diese Frage bewegt, viele Anregungen und Beispiele zur Umsetzung.
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